Hier geht es zum originalartikel: Anja Reinalter im Interview über ein jahr im Deutschen Bundestag (schwaebische.de)
Seit einem Jahr ist Anja Reinalter Mitglied des Deutschen Bundestags für den Wahlkreis Biberach. Corona-Pandemie, Fachkräftemangel, Ukraine-Krieg und die aktuell explodierenden Energiekosten – viel turbulenter hätte das erstes Jahr im Bundestag kaum verlaufen können. Im Interview mit Thomas Werz spricht sie über ihre Aufgaben als parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und erklärt, wie sie damit umgeht, wenn hochgesteckte Ziele auf die brutale Realität eines Kriegs in Europa treffen.
Ihr erstes Jahr Bundestag ist vorbei. Wie lautet Ihr persönliches Resümee?
Anja Reinalter: Die Zeit verging sehr schnell. Seit September 2021 ist schon so viel passiert – das würde für eine ganze Legislaturperiode reichen. Wir sind in einer harten Zeit in die Regierung gekommen und tragen eine sehr große Verantwortung, die wir meiner Meinung nach auch gut bewältigen. Das wird mir auch aus der Bevölkerung ganz oft gespiegelt. Wir haben alle miteinander eine steile Lernkurve zurückgelegt. Viele Abläufe sind inzwischen selbstverständlicher und ich habe mich an das Tempo und die größere Verantwortung gewöhnt.
Olaf Scholz hat von einer Zeitenwende gesprochenen. Wie macht sich diese Zeitenwende im täglichen parlamentarischen Betrieb und in Ihrer Arbeit bemerkbar?
Ich merke das daran, dass verschiedene Krisen gleichzeitig auftreten und wir im Bundestag und in den Ministerien schnell und anders handeln müssen: Wir müssen die Klimakrise bewältigen, die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei, es gibt einen dramatischen Arbeits- und Fachkräftemangel und wir haben Krieg in Europa. Ein konkretes Beispiel: Nachdem Putin die Gaslieferungen erst reduzierte und dann komplett einstellte, haben wir rechtzeitig dafür gesorgt, dass die Gasspeicher zu über 90 Prozent gefüllt werden. Blockaden zum Ausbau der Erneuerbaren Energien wurden beseitigt, LNG-Terminals eingerichtet und Energiepartnerschaften mit neuen Staaten geschlossen.
Sie sind Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion. Wie sieht denn Ihr beruflicher Alltag im Bundestag aus?
Als Parlamentarische Geschäftsführerin bin ich auch Teil des Fraktionsvorstandes. Damit gehen mehr Abstimmungsrunden, mehr Aufgaben und mehr Verantwortung einher. Am Montag reiht sich von morgens bis abends eine Sitzung an die andere. Deshalb fahre ich in den Sitzungswochen schon am Sonntagmittag nach Berlin und bleibe dort bis Freitagnachmittag.
Als Parlamentarische Geschäftsführerin strukturiere und leite ich die parlamentarischen und organisatorischen Abläufe für unsere Fraktion mit. Wir klären mit den anderen Fraktionen, welche Themen im Plenum diskutiert werden müssen oder wie wir mit den Anträgen der Opposition umgehen. Wir sind dafür verantwortlich, dass die Abgeordneten in der politischen Diskussion und bei Abstimmungen eine gemeinsame Linie finden. Wir sorgen für den Zusammenhalt in der Fraktion. Stichwort Sondervermögen der Bundeswehr: Da hatten viele Leute Bauchschmerzen. Oder beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine. Da geht man in die Gespräche, um Bedenken aufzunehmen, Wissen zu vermitteln und eine möglichst große Einheit in der Fraktion herzustellen. Zudem bin ich Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und dort für die berufliche Aus- und Weiterbildung in unserer Fraktion zuständig.
Sie sagen, die Woche füllt Sie gut aus. Wie schaffen Sie es, auch zeitlich Ihrem Mandat im Laupheimer Gemeinderat gerecht zu werden?
Mir ist wichtig, Berlin und den Wahlkreis in Einklang zu bringen – auch wenn es nicht immer einfach ist. Ich weiß, wie es ist, auf lokaler Ebene Vorgaben und Gesetze aus Berlin umzusetzen. Diese Erfahrungen bringe ich in Berlin ein. Ich lebe in Laupheim und mein Herz schlägt für unsere Heimat und für die Kommunalpolitik. Und natürlich bringe ich meine Erfahrungen und mein Wissen aus Berlin auch hier vor Ort ein.
Zurück nach Berlin. Hat das Weltgeschehen, im Besonderen der Krieg in der Ukraine, die Grünen innerhalb des vergangenen Jahres allesamt zu Zwangsrealos gemacht?
Politik setzt voraus, dass wir die Realität erst einmal verstehen und anerkennen. Das tun wir. Wenn Sie unser Abstimmungsverhalten anschauen, finden Sie natürlich Personen, für die ist es ein „No-Go“, den Waffenlieferungen zuzustimmen. Und dann bleiben die bei ihrer Position. Wir haben da keinen Fraktionszwang.
Doch im Wahlprogramm der Grünen stand ja klar: Keine Waffenlieferung in Kriegs- oder Krisengebiete. Da hat die Partei einen fundamentalen Richtungswechsel vollzogen. Wie stehen Sie dazu?
Ich habe zugestimmt. Ich finde das richtig. Die Mehrheit der Bevölkerung, die hätte auch vor einen Jahr gesagt: keine Waffenlieferung in Krisengebiete. Damals hatten wir aber auch nicht an eine derartige Eskalation des Konfliktes durch Russland und den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine gedacht. Die Ukraine hat jedes Recht, sich zu verteidigen, und braucht unsere Unterstützung. Und die geben wir.
Seit Februar dreht sich fast alles um den Krieg in der Ukraine. Was wird aus den hoch gehängten Zielen der Ampel-Koalition?
Wir reagieren auf das Weltgeschehen, aber deshalb vernachlässigen wir die anderen Ampel-Projekte nicht. Das gelingt uns auch: Derzeit wird das Wahlalter 16 für die Europawahl im Bundestag beraten, wir haben das BAföG reformiert, den Mindestlohn angehoben. Das sind nur einige Themen. Sie zeigen, dass viel im Hintergrund passiert – auch wenn darüber nicht jeden Tag ausführlich berichtet wird.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit konkret?
Da gilt es immer wieder, um Konsens zu ringen und Kompromisse zu suchen und einzugehen. Ein gutes Beispiel war sicherlich das Osterpaket mit dem Tankrabatt. Diese Kröte mussten wir schlucken, obwohl das ein absoluter Nonsens war. Das 9-Euro-Ticket, das von unserer Seite kam, war dagegen ein wichtiges Zeichen nicht nur für Entlastung in der Klimakrise, sondern auch, um den Anreiz zu schaffen, wieder mehr Bahn zu fahren. Natürlich fluchten manche im Zug, denn die Versäumnisse der vergangenen Jahre zeigen deutlich, dass die Deutsche Bahn einen großen Nachholbedarf hat.
Wie sehr hat Sie im ersten Jahr der ständige Richtungsstreit der Ampel-Koalition genervt?
Das ist unser Geschäft. Das ist Demokratie. Wir verhandeln, in welche Richtung es geht. Alleine ist es immer leichter. Zu zweit oder zu dritt ist es schwieriger, aber Koalitionsregierungen gehören zu unserer Demokratie. Egal ob gesellschaftliche Fragen oder marode Infrastruktur: In den letzten sechzehn Jahren ist viel liegen geblieben. Das packen wir an.
Beim Klimaschutz ist die Regierung mit großen Zielen gestartet. Nun wird infolge der Energiekrise seit Monaten über die Laufzeitverlängerung der verbliebenen Kernkraftwerke und über Steinkohleverstromung diskutiert. Wie denken Sie darüber?
Das schmerzt. Aber glauben Sie mir: Robert Habeck fährt auch nicht gerne nach Katar, um dort Gas einzukaufen. Das Bundeswirtschaftsministerium ist aber auch für die Versorgungssicherheit zuständig und seit Regierungsantritt hat sich viel verändert: Wir haben Krieg in Europa. Wir waren komplett abhängig von Putin. Das können wir nicht ignorieren, können nicht so weitermachen wie bisher. Wir müssen uns unabhängig und damit auch sicherer machen.
Kann man derzeit das Thema Klimaschutz überhaupt effektiv vorantreiben?
Wir haben in der letzten Sitzung vor der Sommerpause 16 Energie-Beschleunigungsgesetze verabschiedet und damit den Ausbau der Erneuerbaren Energien massiv vorangebracht. Das ist Klimaschutz. In Baden-Württemberg haben wir es geschafft, innerhalb von sieben Monaten ein Windrad in Betrieb zu nehmen. In diesem Tempo muss das weitergehen. Ich weiß aber auch, dass der Ausbau der Erneuerbaren Energien Auswirkungen auf den Artenschutz hat. Deshalb gilt es immer, gut abzuwägen. Es ist klar, dass Schutzstandards für Mensch und Natur auch weiterhin hoch gehalten werden.
Wie spiegelt die lokale Basis diese Entscheidungen zurück?
Sehr gut. Klar diskutieren wir auch im Kreisverband darüber und es ist nicht leicht. Doch es gibt niemanden, der sagt: Anja, das trage ich nicht mit. Im Gegenteil, wir haben mehr Ein- als Austritte. Wir wachsen – auch an den Aufgaben – und werden damit auch mehr Partei der Mitte.
Wäre bei der sich immer weiter zuspitzenden Energiekrise und -knappheit nicht ein Tempolimit angebracht, ganz unabhängig vom CO2-Ausstoß?
Absolut. Ein Tempolimit spart Sprit, verringert den CO2-Ausstoß und macht das Autofahren sicherer. Das ist so und überhaupt nicht ideologisch. Wir sind alle gut beraten, wenn wir über unsere Ressourcen nachdenken. Jeder einzelne Bürger. Aber das trifft, glaube ich, die DNA Oberschwabens ganz gut. Ich bin so aufgewachsen, dass man nicht zum Fenster hinaus heizt und dass man spart, um sich auch was leisten zu können. Für uns in der Region ist das gar nicht so ein großes Thema. Jeder weiß, wenn Sie mit 160 oder konsequent 140 fahren, dann ist das teurer, als wenn Sie 130 fahren. Das Tempolimit ist für uns ganz klar grüne DNA. Ich verstehe es tatsächlich nicht, wie man sich dagegen sträuben kann.
Noch eine Frage zur Energie. Wenn die Preise durch die Decke gehen, wie kann man die Bürger fair und gerecht entlasten? Vor allem diejenigen, die wirklich auf ihr Geld achten müssen?
Wir müssen ehrlich sein: Wir haben viele Jahre über unsere Verhältnisse gelebt. Die superguten Jahre sind vorbei. Wir werden nicht alles auffangen können. Wir müssen lernen, anders mit unseren Ressourcen umzugehen. Aber wir haben die Sorgen und Nöte im Blick und wir arbeiten mit Hochdruck daran, Menschen zu entlasten, Unternehmen zu unterstützen und die Preise runterzubekommen. Am Donnerstag hat die Regierung einen riesengroßen Rettungsschirm aufgespannt, um so Energiekosten für die Verbraucher und Unternehmen im Zaum zu halten.Wichtig ist, dass wir als Gesellschaft solidarisch bleiben und dass wir uns nicht spalten lassen.
Gibt es Punkte aus Ihrer persönlichen Agenda, die bereits im ersten Jahr umgesetzt werden konnten?
Ja. Als einzige und erste Frau, die den Wahlkreis Biberach in Berlin vertritt, war mir die Abschaffung des Paragrafen 219a ein wichtiges Anliegen. Das haben wir geschafft und das war ein großer Erfolg. Nun können sich Frauen sachkundig und professionell auch über Schwangerschaftsabbrüche beraten lassen. Wichtig war mir auch die BAföG-Reform, die größte in 28 Jahren! Fortan werden nicht nur Studierende, sondern auch Auszubildende und Menschen, die sich weiterbilden, mehr Geld bekommen. Das ist wichtig für die Wirtschaft, das Handwerk und auch, um die digitale Transformation meistern zu können. Wir brauchen mehr Master und mehr Meister.
Zum ersten Mal ist der Wahlkreis Biberach mit drei Abgeordneten im Bundestag vertreten. Wie gestaltet sich denn die Zusammenarbeit zwischen Josef Rief, Martin Gerster und Ihnen?
Gut. Wir haben schon gemeinsam Schulklassen im Bundestag begrüßt und wir treffen uns auch immer wieder im Landkreis. Wir arbeiten in unterschiedlichen Ausschüssen. Dadurch können wir die Interessen in verschiedenen Gremien vertreten. Ich arbeite im Ausschuss für Bildung und Forschung. Da setze ich mich gerade dafür ein, dass die Berufsorientierungsangebote finanziell gut ausgestattet werden. In den Nicht-Sitzungswochen bin ich gerne im Landkreis unterwegs. Ich sehe es als meine Aufgabe, die Entscheidungen zu erklären, die in Berlin getroffen werden.
Gibt es Kreisthemen, die Sie in Berlin ausspielen können, oder ist alles der Weltlage untergeordnet?
Die aktuelle Weltlage überschattet gerade sehr viel. Trotzdem arbeiten wir. Derzeit finden Haushaltsverhandlungen für 2023 statt und ich spreche immer wieder den Fachkräftemangel an, der auch in unserem Landkreis immer akuter und spürbarer wird. Als Parlamentarische Geschäftsführerin arbeite ich auch daran mit, das Wahlrecht so zu reformieren, dass die Zahl der Abgeordneten auf die im Grundgesetz vorgegebene Anzahl von 598 reduziert wird. Dann wird es sehr unwahrscheinlich sein, dass der Landkreis künftig mit drei Abgeordneten vertreten ist.
Mit dem Risiko, dass Sie Ihr eigenes Mandat mit abschaffen?
Definitiv, aber ich bin ja nicht da, um meinen Posten zu halten, sondern um gute Politik zu machen. Ein reduzierter Bundestag erhöht die Akzeptanz für die Politik in der Gesellschaft. Und das ist wichtig.